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Interview: „Gewalt gegen Frauen ist ein strukturelles Problem“

25.11.2025

Der „Orange Day“ der UN macht auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam. Hanna Welte vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht der LMU erläutert die rechtliche Situation in Deutschland.

Hanna Welte, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht der LMU, forscht zum regionalen Menschenrechtsschutz mit Schwerpunkt auf Frauenrechten. Im Interview spricht sie darüber, wie Deutschland mit geschlechtsspezifischer Gewalt umgeht, welche Gesetze Frauen besser schützen sollen und wo das Recht zu kurz greift.

Zum „Orange Day“ der UN erstrahlen am 25. November weltweit Fassaden in Orange – als Symbol gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Wie sind Frauen in Deutschland rechtlich gegen Gewalt geschützt, der sie explizit aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sind?

Hanna Welte: Die Bundesrepublik hat ein weitgehend geschlechtsneutrales Strafrecht. Körperverletzung, Tötungsdelikte oder Vergewaltigung sind unabhängig vom Geschlecht des Opfers im Strafgesetzbuch verankert. Weil dieses System auf Gleichbehandlung setzt, gibt es bislang keinen eigenen Straftatbestand, der sich ausdrücklich auf Gewalt gegen Frauen bezieht. Seit Kurzem gibt es aber einen ersten Ansatz, geschlechtsspezifische Motive zu berücksichtigen: Paragraph 46 des Strafgesetzbuchs ermöglicht eine Strafschärfung, wenn eine Tat aus geschlechtsspezifischen Gründen begangen wurde. Dies greift allerdings erst ganz am Ende eines Strafverfahrens und verändert nicht den grundsätzlichen Aufbau des Strafrechts.

Mehr Gewalt gegen Frauen in Deutschland

Laut jüngstem Lagebericht des Bundeskriminalamts steigt die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen. Was wird dabei erfasst?

Der Lagebericht listet Straftaten auf, von denen Frauen – im Kontext von Gewalt gegen Frauen – besonders häufig betroffen sind. Dazu zählen Körperverletzung, Bedrohung und Nötigung sowie Stalking, sexualisierte Gewalt und Tötungsdelikte. Die Zahlen dieser Delikte sind im Vergleich zum Vorjahr tatsächlich gestiegen, insbesondere im Bereich häuslicher Gewalt und bei gefährlichen Körperverletzungen.

Daten des Bundesinnenministeriums machen zudem sichtbar, wie ungleich Männer und Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt sind: Frauen werden deutlich häufiger Opfer häuslicher Gewalt, sie sind fast sechs Mal häufiger von Sexualstraftaten betroffen als Männer, und auch im digitalen Raum ist mehr als die Hälfte der Personen, die digitale Gewalt erleben, weiblich.

Trotz dieser sehr klaren Geschlechterverteilung fehlen jedoch systematische Daten über die Motive. Es ist häufig nicht klar, ob eine Tat aus einem geschlechtsspezifischen Motiv heraus begangen wurde – oder ob ganz andere Motive dahinterstanden. Ohne diese Information ist es schwer, geschlechtsspezifische Gewalt im Lagebild explizit auszuweisen.

Was könnte die steigenden Zahlen erklären?

Ein Grund ist sicher, dass heute mehr Betroffene den Mut haben, Gewalt zu melden. Der gesellschaftliche Umgang mit dem Thema ist offener geworden, Unterstützungssysteme sind sichtbarer und die Hemmschwelle zur Anzeige sinkt. Dadurch erscheinen in den Statistiken zunehmend Fälle, die früher verborgen geblieben wären – auch wenn die Dunkelziffer weiterhin sehr hoch ist und die registrierten Fälle daher nur einen Teil des tatsächlichen Ausmaßes abbilden.

Zugleich zeigen Forschung und Kriminalstatistiken, dass Gewalt gegen Frauen in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wurzelt, die sich kaum verändert haben – mit überkommenen Rollenvorstellungen, ungleichen Machtverhältnissen und Besitzdenken in Beziehungen – und in Zeiten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks noch zunehmen.

Femizide in Deutschland: 155 im Jahr 2023

Orangefarbene Schuhe auf einem Bürgersteig in Köln sollten am Orange Day 2024 auf jede versuchte oder erfolgreiche Tötung von Frauen hinweisen

Orangefarbene Schuhe auf einem Bürgersteig in Köln sollten am Orange Day 2024 auf jede versuchte oder erfolgreiche Tötung von Frauen hinweisen | © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Martin Meissner

Sie forschen zu Femiziden. Was bedeutet der Begriff?

Er geht auf die US-amerikanische Feministin Diana Russell zurück und bezeichnet im Kern die Tötung einer Frau, „weil sie eine Frau ist“ – also eine Tat, bei der ihr Geschlecht selbst das zentrale Motiv ist. Gemeint ist damit nicht jede Tötung einer Frau. Es geht um solche Fälle, in denen geschlechtsspezifische Abwertung, Kontrolle oder Besitzdenken entscheidend sind. Eine international einheitliche Definition gibt es allerdings nicht.

Im spanischsprachigen Raum wird häufig der Begriff Feminicidio verwendet, dessen kleines „ni“ in der spanischen Sprache zusätzlich staatliches Versagen beim Schutz von Frauen betont. Weltweite Bekanntheit erhielt der Begriff durch die extrem hohe Zahl an Frauenmorden in Mexiko in den 1990er- und 2000er-Jahren, von wo aus er sich international verbreitete.

In Deutschland handelt es sich bei der überwiegenden Mehrheit der Femizide um Fälle, in denen Männer ihre Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen töten. Und diese Taten nehmen seit Jahren zu: 2023 wurden 155 Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet, im Jahr zuvor waren es noch 133. Das war rein statistisch eine Tötung etwa alle drei Tage – heute passiert es, rein rechnerisch, alle zwei Tage.

Wie wird ein Femizid in Deutschland juristisch geahndet?

Weil es keinen eigenen Straftatbestand „Femizid“ gibt, werden solche Tötungen entweder als Mord oder als Totschlag eingeordnet. Für eine Verurteilung wegen Mordes muss eines der gesetzlich definierten Mordmerkmale vorliegen – etwa Heimtücke, Habgier oder niedrige Beweggründe. Gerade dieses letzte Merkmal könnte bei vielen Femiziden zutreffen: Wenn ein Täter aus Besitzdenken handelt oder aus der Haltung heraus, die Partnerin „gehöre“ ihm, könnte das juristisch als niedriger Beweggrund bewertet werden.

In der Praxis werden Trennungssituationen oder Eifersucht in vielen Urteilen aber eher als emotionale Ausnahmelagen bewertet. Dadurch fallen zahlreiche Fälle nicht unter Mord, sondern unter Totschlag. In einzelnen Fällen erkennen Gerichte sogar einen minder schweren Fall an, wenn das Verhalten der Frau als „Provokation“ gewertet wird, zum Beispiel durch eine Affäre.

Das hat erheblichen Einfluss auf das Strafmaß: Während Mord zwingend mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet wird, sind es bei Totschlag nur mindestens fünf Jahre – und im minderschweren Fall sogar weniger.

Bräuchte Deutschland also einen eigenen Femizid-Tatbestand?

Die Einführung eines solchen Femizid-Tatbestands hätte eine klare Signalwirkung: Der Staat erkennt an, dass es sich nicht um zufällige Einzelfälle handelt, sondern um Gewalt, die aus gesellschaftlichen Mustern entsteht. Es wäre aber auch ein Bruch mit der geschlechtsneutralen Systematik des deutschen Strafrechts.

Alternativ – das wird in Deutschland deutlich häufiger diskutiert – könnte ein neues Mordmerkmal eingeführt werden, das geschlechtsspezifische Motive ausdrücklich erfasst. Auch so könnte die Signalwirkung geschaffen werden, ohne aber die geschlechtsneutrale Systematik des deutschen Strafrechts zu durchbrechen. Auch eine geschlechtssensible Auslegung des bestehenden Motivs der niedrigen Beweggründe wäre denkbar. So könnten Femizide angemessen bestraft werden, die ausdrückliche Signalwirkung, die durch einen eigenen Femizidstraftatbestand oder durch ein neues Mordmerkmal erreicht würde, bliebe jedoch aus.

Schutz vor Gewalt verbessern

Wie könnte das Recht Frauen früher schützen, bevor sie Opfer solcher Gewalt werden?

Der Femizid ist fast nie ein plötzlicher Ausbruch, sondern steht insbesondere bei partnerschaftlicher Gewalt am Ende einer langen Kette von Gewalt: zunächst Isolation, dann vermehrte Kontrolle, psychische Gewalt, erste körperliche Übergriffe. Aber das Strafrecht greift erst, wenn bereits eine Straftat vorliegt – und das kommt für die Frauen zu spät.

Besonders wichtig ist hier das in diesem Jahr in Kraft getretene Gewalthilfegesetz, das den Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt strukturell verbessert. Das Gesetz schafft erstmals eine bundesrechtliche Grundlage für einen flächendeckenden Ausbau von Schutz-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten. Zugleich fordert es Programme zur Arbeit mit Tätern und Täterinnen und sieht Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit vor. Dies folgt den Vorgaben der Istanbul-Konvention des Europarats, die die Vertragsstaaten seit 2014 verpflichtet, Gewalt gegen Frauen vorzubeugen. In Deutschland ist das erst seit 2018 der Fall, weil Deutschland damals erst den Vertrag ratifiziert hat.

Insbesondere der Ausbau von Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig, denn diese hilft maßgeblich bei der Veränderung von patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, aus denen Gewalt gegen Frauen entsteht. Prävention muss deshalb früh beginnen – in Bildung, Jugendarbeit und gesellschaftlicher Aufklärung.

Hanna Welte

Hanna Welte

forscht am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht der LMU zum regionalen Menschenrechtsschutz mit Schwerpunkt auf Frauenrechten. | © FotoAgenten by Angelika Marlene Löffler

Welche Rolle kann ein Tag wie der Orange Day dabei spielen?

Eine sehr wichtige, weil er Sichtbarkeit schafft. Gewalt gegen Frauen wird oft als privates Einzelfallproblem behandelt, nicht als gesamtgesellschaftliches. Die Kampagne holt das Thema aus der Privatheit heraus. Wenn ganze Fassaden orange leuchten, kommt man buchstäblich nicht daran vorbei. Und es macht deutlich, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, das uns alle in der Gesellschaft angeht.

Welche Rolle spielt weibliche Gewalt gegen Männer?

Sie kommt durchaus vor, ebenso wie Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Die Forschung zeigt jedoch sehr klar, dass partnerschaftliche Gewalt überwiegend von Männern gegen Frauen ausgeübt wird. Das bestätigen sowohl deutsche Kriminalstatistiken als auch internationale Studien. Partnerschaftliche Gewalt geschieht häufig vor dem Hintergrund von Machtgefällen, Besitzansprüchen und tradierten Rollenerwartungen in Beziehungen. Diese Ursachen wirken jedoch nur in heterosexuellen Beziehungen bei Gewalt, die von Männern ausgeht.

Was kann Deutschland von anderen Ländern lernen?

Viele lateinamerikanische Länder haben eigene Femizid-Tatbestände geschaffen und verankern das Thema konsequent in ihrer Bildungsarbeit. Spanien wiederum hat ein besonders wirksames Schutzsystem eingeführt: Meldet eine Frau Partnerschaftsgewalt und werden Schutzmaßnahmen angeordnet, kann der Täter eine elektronische Fußfessel erhalten. Nähert er sich ihr, löst das automatisch einen Alarm aus – sowohl bei der Frau als auch bei der Polizei. Seit Einführung dieses Systems ist in Spanien keine Frau mehr getötet worden, die daran angeschlossen war. In Deutschland hat das Bundeskabinett gerade einen Gesetzesentwurf zur Einführung eines ähnlichen Modells beschlossen.

Mehr zum Thema:

End Violence against Women: Orange Day der UN

Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten: Publikation des Bundeskriminalamts

Studie der WHO: Violence against Women

Forschungsprojekt an der LMU:

Am Center for Advanced Studies der LMU untersucht eine Forschungsgruppe unter Leitung von Julia Burkhardt, Professorin für Geschichte des Mittelalters an der LMU, Femizide aus einer historisch-globalen Perspektive und mit interdisziplinärem Zugang.

Orangene Flaggen hängen am Hauptgebäude der LMU anlässlich der weltweiten UN-Kampagne ‚Orange the World – Stoppt Gewalt an Frauen‘

Orangene Flaggen hängen am Hauptgebäude der LMU anlässlich der weltweiten UN-Kampagne ‚Orange the World – Stoppt Gewalt an Frauen‘

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